Wahlrechtsbonus für vergangene Verdienste? – Verfassungsblog – Model Slux

In der „unangefochtenen Einsicht“, dass ein perfektes Wahlsystem nicht existiert, billigte das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 30. Juli 2024 das Herzstück der Wahlrechtsreform: die Zweitstimmendeckung. Es ist dem Gesetzgeber damit gelungen, die strukturellen Probleme eines systematisch bislang auf dem Lagerdualismus zweier großer Volksparteien angelegten Bundeswahlgesetzes zu überwinden und das Wahlrecht insgesamt auf ein neues, verfassungsrechtlich tragfähiges, Fundament zu stellen. Wer die Entscheidung in Gänze liest, könnte gleichwohl den Eindruck gewinnen, das BVerfG schaffe mit der CSU als „seit Jahrzehnten staatstragend im Parlament befindlicher Partei“ (Wöckel) ganz nebenbei ein neues Intestine von Verfassungsrang. Erneut erreicht eine Wahlrechtsdiskussion in Deutschland damit ihren Endpunkt bei der CSU (vgl. Kuhle). Das wäre vermeidbar gewesen.

Grundprinzip der Zweitstimmendeckung

Der in Artwork. 38 III GG begründete Gestaltungsauftrag verschafft dem Gesetzgeber eine weitgehend freie Hand und lässt Neuerungen im Wahlrecht auch dann zu, wenn diese den Wählerinnen und Wählern, Bewerbern und Parteien ein Umdenken abverlangen (Rn. 169). Dass ein Wahlkreismandat nur noch derjenige erhält, der in einem Wahlkreis auch die meisten durch Zweitstimmen gedeckten Erststimmen vorweisen kann, erachten die Richterinnen und Richter zurecht als zulässige Neukonzeption des Ausgleichs zwischen Erst- und Zweitstimmendeckung (Rn. 170). Einen Verstoß gegen die Wahlrechtsgrundsätze nach Artwork. 38 I 1 GG haben sie folgerichtig ebenso verneint wie die Verletzung der Chancengleichheit der Parteien aus Artwork. 21 I GG. Die „Verkappung“ oder „Verwaisung“ von Wahlkreisen ist schon deshalb ausgeschlossen, weil ein Wahlkreismandat überhaupt erst und nur dann entsteht, wenn es vom Anteil der für die betroffene Partei abgegebenen Zweitstimmen gedeckt ist (Rn. 178). Weder das Grundgesetz noch das aktuelle Wahlrecht stützen die Annahme eines vermeintlichen Gebots der Regionalisierung bzw. Wahlkreisrepräsentation (Rn. 179). Wahlkreisabgeordnete sind nach Artwork. 38 I 2 GG Vertreter des ganzen Volkes, allein ihrem Gewissen verantwortlich und insofern von vornherein nicht als Delegierte eines einzigen – ihres – Wahlkreises anzusehen (Rn. 182). Für Einzelheiten sei auf den Beitrag von Michl/Mittrop verwiesen.

In Stein gemeißelte Fünf-Prozent-Hürde?

Das BVerfG hält auch an seiner Rechtsprechung fest, wonach Sperrklauseln den Grundsatz der Wahlgleichheit gemäß Artwork. 38 I 1 GG beeinträchtigen, dies aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein kann (Rn. 221 ff.). Nicht als tragfähig erweist sich zwar wegen der damit verbundenen „Ausgrenzungswirkung gerade gegenüber einer bestimmten Artwork von Parteien“ das Argument, dass Sperrklauseln solchen Parteien den Einzug in den Bundestag erschweren, die inhaltlich an Partikularinteressen ausgerichtet oder zur Kompromissfindung und Koalitionsbildung kaum bereit sind (offen gelassen Rn. 229 ff.). Zu Recht stellt das Gericht aber darauf ab, dass das Wahlrecht mit einer Sperrklausel verhindert, dass das Parlament in viele kleine Gruppen zersplittert, und damit die Arbeits- und Funktionsbedingungen des Bundestages sichert. Auch schaffen Sperrklauseln die Voraussetzungen dafür, dass Zusammenschlüsse von Abgeordneten mit gleichgerichteten politischen Zielen im Bundestag grundsätzlich eine bestimmte Mindestgröße haben (Rn. 236 ff.).

Kritisch zu würdigen ist, dass das BVerfG die von § 4 II 2 Nr. 2 BWahlG vorgegebene Höhe der Sperrklausel von fünf Prozent der bundesweit gültigen Zweitstimmen weiterhin unbeanstandet lässt (Rn. 240 ff.; st. Rspr. seit BVerfGE 1, 208 [247 ff.]). Die Begründung fällt dabei ausgesprochen knapp aus: Da sich die Höhe „nicht eindeutig nach generalisierbaren sachlichen Kriterien bestimmen“ lasse, komme der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers zum Tragen. Um eine verlässliche Handhabung des Wahlrechts zu gewährleisten, sei die „empirisch vorgefundene Höhe von 5 Prozent“ zugrunde zu legen – gemeint sein dürfte, dass eine solche Sperrklausel schon seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bestand (§ 10 IV, V WahlG 1949). Damit wird faktisch zum Stand des Verfassungsrechts erhoben, was stets nur einfachgesetzlich geregelt warfare; (nur?) „im Falle einer Anhebung müsste der Gesetzgeber mit nachvollziehbaren Gesichtspunkten ihre Erforderlichkeit begründen“ (Rn. 243). Der Gesetzgeber warfare daher nicht gehalten, sich damit auseinander zu setzen, ob auch eine der Höhe nach abgesenkte oder regionalisierte Sperrklausel wie bei der ersten Bundestagswahl bzw. der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl hinreichend stabilisierend gewirkt hätte.

Zwar erkennt auch das BVerfG an, dass sich Sperrklauseln nicht ein für alle Mal abstrakt beurteilen lassen, sondern auch hier die jeweiligen konkreten tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen seien (Rn. 166), zieht daraus aber nicht die nötigen Konsequenzen. Tatsächliche Veränderungen des Wahlverhaltens dürfen nach hier vertretener Auffassung bei der Bewertung von Sperrklauseln nicht unberücksichtigt bleiben. Je pluralistischer das Parteienspektrum ist, desto höher fällt absehbar der Anteil an Stimmen aus, der aufgrund der Sperrklausel keine Abbildung im Parlament findet. Prognoseentscheidungen sind zweifellos mit Unsicherheiten behaftet. Wer aber – wie das BVerfG – derartiges für den Zweitstimmenanteil der CSU bei der nächsten Bundestagswahl erwägt (Rn. 252 ff.), darf nicht davor zurückschrecken, den gesamten sperrklauselbedingten Ausfall an Stimmen zu prognostizieren (anders Rn. 248). Zu bedenken ist dabei auch, dass dieser Anteil schon bei der letzten Bundestagswahl bei knapp 4 Millionen Zweitstimmen lag und sich über 30 % der Zweitstimmenanteile nicht in Bundestagssitzen hätten niederschlagen können, wenn das reformierte Bundeswahlgesetz bei der Bundestagswahl 2021 Anwendung gefunden hätte (Wawzyniak).

Brüchige Kooperationsstruktur

Das liegt unter anderem daran, dass die Grundmandatsklausel, die noch im Entwurf der Regierungsfraktionen vorgesehen warfare (BT-Drucks 20/5370 S. 6, 14), relativ kurzfristig aus dem Bundeswahlgesetz geflogen warfare (es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das ausgerechnet auf das Drängen der Partei hin geschehen warfare, die später gegen ihre Abschaffung gerichtlich vorging). Damit fiel ein Korrektiv für die Sperrklausel weg, das Parteien, die mindestens drei Wahlkreismandate errungen hatten, unabhängig vom Überschreiten der Sperrklausel die Teilnahme am Verhältnisausgleich erlaubte (Breuer/Klein). Daran knüpft das BVerfG an: Um die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages sicherzustellen, sei es nicht notwendig, eine Partei bei der Sitzverteilung unberücksichtigt zu lassen, deren Abgeordnete im Fall ihrer Berücksichtigung eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten einer anderen Partei bilden würden, wenn beide Parteien gemeinsam das Fünf-Prozent-Quorum erreichen würden.

Das zielt ersichtlich auf die Kooperation von CDU und CSU ab, da, so prognostiziert das BVerfG, die Möglichkeit bestünde, dass letztere bei der Wahl nach dem Bundeswahlgesetz 2023 bei der Sitzverteilung an der bundesweiten Fünf-Prozent-Sperrklausel – ohne Grundmandatsklausel – scheitert (Rn. 251). Dafür gälten aber qualifizierte Anforderungen, die allesamt auf CDU und CSU zutreffen: „erstens die Absicht, aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele eine Fraktion zu bilden, zweitens den Umstand, dass schon bisher eben eine solche gemeinsame Fraktion im Bundestag bestand, und drittens den Verzicht auf Wettbewerb untereinander, indem Landeslisten nur in unterschiedlichen Ländern eingereicht werden.“ (Rn. 258). Solche Kooperationen, die über ein reines Wahlbündnis hinaus auf die Bildung einer Fraktionsgemeinschaft abzielen, veränderten – so das BVerfG – die Rahmenbedingungen der parlamentarischen Arbeit, deren Sicherung eine Sperrklausel überhaupt nur bezweckt (Rn. 260). Würden Parteien, die in dieser Kind kooperieren, bei der Anwendung der Sperrklausel des § 4 II 2 Nr. 2 BWahlG gemeinsam berücksichtigt, stelle dies zwar in mehrfacher Hinsicht eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Parteien – namentlich der Partei DIE LINKE – dar, die aber jedenfalls dann gerechtfertigt sei, wenn sie auf Parteien beschränkt ist, die alle drei genannten Elemente erfüllen. So sei es gerechtfertigt, dass kooperierende Parteien auch dann Bundestagsmandate erhalten, wenn jede für sich die Voraussetzungen des § 4 II 2 Nr. 2 BWahlG nicht erfüllt und einer Wahlstimme, die für eine der beiden Parteien abgegeben wird, insofern ein Erfolgswert mit Blick auf beide Parteien zukommt (Rn. 262). Auch dass nur gemeinsam berücksichtigt wird, wer bereits eine gemeinsame Fraktion im Bundestag bildet, und nicht, wer dies lediglich in Zukunft beabsichtigt, sei eine zulässige Ungleichbehandlung (Rn. 263).

Diese Argumentation, die sieben der acht Richter teilen, irritiert. Es fehlt schon an einem verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt, um eine „historisch gewachsene [Kooperations-]Struktur“ (Offenloch) zu berücksichtigen. Es gibt, wie Florian Meinel in der mündlichen Verhandlung mit Recht anmerkte, im Wahlrecht keinen „Bonus für vergangene Verdienste“. Das BVerfG unternimmt dann auch gar nicht den Versuch, seine Sichtweise verfassungsdogmatisch einzuordnen. Im Gegenteil tun sich Widersprüche auf, wenn das Gericht an anderer Stelle betont, dass das Grundgesetz ein Gebot der Regionalisierung oder der Wahlkreisrepräsentation nicht kenne (Rn. 179). Ausdrücklich hebt es hervor, dass die Verfassung nicht vorgebe, nach welchen Kriterien der Gesetzgeber zwischen bedeutsamen und nicht bedeutsamen Parteien unterscheiden muss und er deshalb Parteien mit regionalen Schwerpunkten nicht gesondert berücksichtigen müsse (Rn. 222). Was die konkret vom BVerfG aufgestellten Kriterien betrifft, besteht schon das Risiko, dass sich eine im Wahlkampf geäußerte Absicht nicht realisiert, da die Bildung einer Fraktion nach wie vor den Abgeordneten im Bundestag vorbehalten bleibt (Rn. 269). Dass es zum Bruch der Kooperationsstruktur kommen kann, lässt sich daher auch unter den engen Anforderungen des BVerfG nicht mit Sicherheit ausschließen. Eines bleibt im Urteil schließlich unerwähnt: Das Verhältnis zwischen den „Schwesterparteien“ CDU und CSU warfare nicht immer harmonisch, wie unter anderem die Auseinandersetzung zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer über die Asylpolitik belegt. Auch die Frage nach dem geeigneten Kanzlerkandidaten birgt bekanntlich ein gewisses Konfliktpotenzial. So eng die Kooperationsstruktur auch sein magazine, bietet sie doch keine hinreichende Gewähr für ihre Beständigkeit: Gewählt werden am Ende noch immer einzelne Parteien. Man magazine die Entscheidung des BVerfG insofern für pragmatisch halten (Michl/Mittrop), Pragmatismus allein bildet indes keine verfassungsrechtliche Kategorie.

Kooperationsvorschlag des BVerfG ist nicht zu empfehlen

Nach dem Urteil des BVerfG gilt die Fünf-Prozent-Sperrklausel des § 4 II 2 Nr. 2 BWahlG bis zu einer Neuregelung mit der Maßgabe fort, dass bei der Sitzverteilung Parteien mit weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen nur dann nicht berücksichtigt werden, wenn ihre Bewerber in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen auf sich vereinigt haben. Der Gesetzgeber ist bei der Neuregelung aber nicht darauf beschränkt, eine solche „Wahlkreisklausel“ – vergleichbar zur bisherigen Grundmandatsklausel – aufzunehmen (Rn. 275, zur rechtlichen Zulässigkeit Rn. 278 ff.). Es steht dem Gesetzgeber grundsätzlich frei, auf die Sperrklausel zu verzichten, deren Höhe herabzusetzen oder andere geeignete Möglichkeiten zu ergreifen. Dazu zählen nach hier vertretener Auffassung auch regionalisierte oder landesbezogene Sperrklauseln (skeptisch Rn. 274) bzw. eine sog. Abdeckungsregelung, die sicherstellen soll, dass mindestens 95 % der abgegebenen gültigen Zweitstimmen im Bundestag vertreten sind (Wawzyniak). Nicht zu empfehlen ist wegen der damit verbundenen Ungleichbehandlung der Parteien hingegen der Vorschlag des Zweiten Senats, die gemeinsame Berücksichtigung von kooperierenden Parteien in das Bundeswahlrecht zu überführen. Dasselbe gilt für die (Wieder)Aufnahme einer – gegebenenfalls der Zahl nach modifizierten – Wahlkreisklausel. Sie ist und bleibt in einem Verhältniswahlrecht systemwidrig.

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